Belohnen und Billigen von Straftaten

April 18, 2022 By Andrea Downey-Lauenburg

Je mehr ich mich mit dem Krieg auseinandersetze, desto mehr stelle ich fest, wie unnötig er doch eigentlich ist. Nicht wie schrecklich oder widerlich oder grauenhaft – das weiß doch jeder Dummkopf – nein: wie unnötig!

Wir machen es uns einfach: Wir teilen die Beteiligten als Angreifer (Russland) und Verteidiger (Ukraine), als Aggressor (Putin) und Unschuldige (Selinsky) auf; wir unterscheiden zwischen Guten (Ukrainer) und Bösen (Russen), zwischen Legitim (Verteidigungskrieg) und unrechtmäßig (Angriffskrieg) und letztlich auch zwischen Tätern (russische Soldaten) und Opfern (Zivilisten). Alles ist simpel und unkompliziert – und nichts davon macht Sinn.

Aufgefallen ist mir das mal wieder, als ich – entgegen besseren Wissens – einen Artikel in den ach-so-neutralen deutschen Staatsmedien gelesen habe: “Polizei und Staatsanwaltschaften haben… …mehr als 140 Ermittlungsverfahren wegen der Befürwortung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine eingeleitet”, heißt es dort unter nahezu gleicher Überschrift.

Mmh…?

Ermittlungsverfahren wegen Meinungsäußerung? Kennt man das nicht sonst nur aus autokratischen oder totalitären Staaten wie zum Beispiel Russland? Ah, verstehe: Ein paar Absätze weiter wird die Sache erklärt: Im Paragraph 140 des deutschen Strafgesetzbuchs heißt es, dass “das Belohnen und Billigen von Straftaten” unter Strafe gestellt ist. Soweit so klar. Oder doch nicht? Was eine Straftat ist, entscheidet der Gesetzgeber.

Hat Russland nicht gerade ähnliche Gesetze erlassen? Bei denen ebenfalls die freie Meinungsäußerung unter Strafe gestellt wird? Wer hat denn eigentlich dort entschieden, was Recht und was Unrecht ist? Stimmt: die Duma, das Parlament. Sprich: der Gesetzgeber.

Was in Deutschland das “Belohnen und Billigen von Straftaten” oder die ebenfalls gerne gegen polarisierende Meinungen verwendete “Volksverhetzung” ist, heißt in Russland “Propaganda und Agitation, die soziale, rassistische, nationale und religiöse Feindschaft schürt” und neuerdings auch “Veröffentlichung von Falschnachrichten”.

Gar nicht so unterschiedlich, oder? Und dass die russischen Staatsmedien gar nicht sehr viel anders als ARD und ZDF agieren – das sehen die Bürger im “freien” Westen natürlich nicht. Alle beziehen ihre Hauptinformationen vom jeweiligen Staat, betreiben jedoch unabhängigere journalistische Arbeit in weniger sensiblen Bereichen.

Schockiert, lieber Leser?

Vermutlich genauso schockiert wie es die russischen Bürger sind, wenn sie vor “alternative Tatsachen” gestellt werden, die ihr russisch-orthodoxes Weltbild infrage stellen.

Und was genau passiert gerade in der Ukraine? Es herrscht Krieg (bzw. ein “militärisches Spezialmanöver”). “Wir müssen uns gegen die Russen verteidigen”, sagt Selinsky. “Wir müssen uns gegen den Westen verteidigen”, sagt Putin. Die westlichen Medien verdammen Putin und Russland, die östlichen dämonisieren Selinsky und den Westen. Und wer hat nun den Krieg begonnen? “Russland”, sagt der demokratische Westen. “Der Westen”, sagen die Russisch-Orthodoxen. Nichts Neues im täglichen Ostwestkonflikt.

Im Moment ist es mir egal wer “im Recht” ist, wer hier was “begonnen” hat. Ich weiß nur eines: Krieg ist fürchterlich. Und sowohl “der Westen” wie auch “die Russen” haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, das Blutvergießen und den Terror auf der Stelle zu beenden! Es spielt keine Rolle, wer letztlich “Schuld hat”. Nicht im Moment jedenfalls. Alles was zählt ist, dass das Morden aufhört.

Und danach könnte man vielleicht auch einmal anfangen zu überlegen, warum Russland und der Westen ähnliche Gesetze gegen Meinungsäußerungen haben.