Mehr, mehr, mehr!
May 13, 2022Zugegeben, die Frequenz meiner Blogeinträge lässt zu wünschen übrig.
Aber falls es noch jemand nicht bemerkt haben sollte: In Europa herrscht Krieg! Ja, in Europa. Ja: Krieg. Nicht etwa ein “kalter Krieg” wie weiland in den Achtzigern, sondern ein “heißer”, wirklicher Krieg.
Warum dann hier nicht geschossen wird und keine Raketen fliegen? Wir wollen es nicht beschreien, denn die Mehrheit der Menschen in Europa haben genau davor Angst. (Und davor, dass sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können.)
Egal ob wir in Norwegen, England oder Deutschland leben: Wir sehen den Krieg nicht nur in den Nachrichten, sondern im Supermarkt, an der Tankstelle sowie bei den Heiz- und Stromrechnungen: Brace yourself!

Ich persönlich sehe ihn auch an den Grenzen zur Ukraine, und ganz besonders in den Augen der Menschen, die ich nach Deutschland, Österreich oder Norwegen fliege. Mein Kopf ist von dem Schicksal der Menschen, mit denen ich es täglich zu tun habe, okkupiert.
Jeden Tag, jede Stunde muss ich mir sagen, dass es nicht “die bösen Russen” sind, die all das Leid verursachen, sondern Putin und seine Schergen. Aber ganz ehrlich: Das fällt mit jedem Tag und mit jeder neuen Erzählung, mit der ich konfrontiert werde, schwerer.

Was erschwerend hinzukommt: Die ganze Welt schreit nach mehr und mehr Eskalation. Egal ob Ministerpräsidenten, Außenministerinnen oder Generäle: Mehr Waffen, mehr Sanktionen, mehr Geld für das Militär, mehr Nato-Beitritte.
Denkt eigentlich noch jemand darüber nach, was die direkten Konsequenzen aus “mehr, mehr, mehr” sind? Weniger Morde? Weniger Verstümmelte? Weniger Verletzte? Weniger tote Kinder? Weniger Flüchtlinge? Weniger Leid? Oder etwa niedrigere Preise?
Ja, der russische Bär ist angezählt und wird mehr und mehr in die Ecke gedrängt. Aber hat er deswegen weniger Waffen, weniger Soldaten und weniger Tod – weltweiten Tod – in seinem Arsenal? Sind wir tatsächlich so eingebildet zu glauben, das größte Land der Erde könne nur mit dem Westen Handel treiben?
Ist Putin durch dieses “mehr, mehr, mehr” weniger totalitär, weniger faschistisch? Wird Europa sicherer, wenn sich durch neue Mitglieder die Grenzen der NATO-Staaten zu Russland verdoppeln? Wenn mehr Generäle auf beiden Seiten mehr Soldaten befehligen und noch mehr Waffen zur Verfügung haben?

Wie lange können wir unsere eigenen Russland-Sanktionen durchstehen, wieviel Inflation kann die arbeitende Bevölkerung ertragen, und wie viel extreme Preissteigerungen können Rentner und Erwerbslose noch überstehen? Schützt uns das Bankensystem tatsächlich vor Massenarbeitslosigkeit und Hyperinflation? Wie lange glauben die Menschen im Westen noch an das Märchen, dass der Krieg weit weg ist? Ich fliege jeden Tag hin und kann versichern: Er ist viel zu nah!
Nein, wir brauchen nicht “mehr und mehr und mehr”.
Wir brauchen Frieden und Wiederaufbau. Wir brauchen weniger Beschimpfungen und Beschuldigungen. Wir müssen lernen zuzuhören, zu verhandeln und Kompromisse einzugehen.
Mit Bullis diskutiert man nicht? Wann wird der Westen endlich erwachsen und kapiert, dass es mehr als nur seine eigene Ideologie auf der Welt gibt?
Es hilft nicht zu betonen, dass der Andere der Böse ist und angefangen hat. Dass Putin ein Diktator und Russland längst keine Demokratie mehr ist (oder nie eine war).
Was wir brauchen ist Verständigung und Frieden. Nicht mehr, nicht weniger.
