Drei Jahre zuvor
SIE
Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin. Meine Schwester sagt, in einem Privatjet. Sie hat mich vom Flughafen in New York abgeholt. Sie sagte nicht viel, sondern nahm mich nur in den Arm. Soweit ich mich erinnere, saßen wir in einer Limousine. Was nicht gerade zu meinem Wohlbefinden beitrug. Limousine …
Wir fahren durch New York. Manhattan lassen wir rechts liegen. Anik und ihr Mann wohnen in Providence. Ein weiter Weg. Auch ihr Mann, redet nicht viel, sondern nimmt mich ebenfalls nur in den Arm. Wir essen schweigend irgendetwas. Ich kann den Geschmack nicht identifizieren. Das geht schon lange so. Ich glaube, ich habe meinen Geschmackssinn verloren. Ich glaube, ich bin ein Zombie, der sich einbildet zu leben. Deshalb schmecke ich nichts. Und riechen kann ich auch nicht. Jedenfalls nicht richtig.
Das erste, was er sagt, als wir das Haus betreten ist, dass ich bitte niemanden umbringen soll. Ich verstehe nicht. Oder sagt er das, weil ich eine Untote bin? Ich merke, dass der Satz keine Floskel ist (Warum auch?), sondern, dass er es durchaus ernst meint. Ich muss ihnen versprechen, dass ich das nicht tun würde.
Ich habe es akzeptiert, weil es vermutlich nicht nett ist, und ich muss nett sein, weil Anik jedes Jahr zwischen Weihnachten und Sylvester Geschäftsfreunde empfängt. Ich nehme an, diese Leute würden einen mordenden Zombie nicht zu schätzen wissen.
Aber mal ehrlich: Leben, Tod. Wo ist der Unterschied?
Ich weiß, wo der Unterschied ist: Es gab eine Zeit, da war das Sterben etwas, dass irgendwem irgendwann einmal passieren würde. Heute jedoch daran, was ich tun würde. Glaube ich.
Mein Leben steht auf dem Kopf. Wie kann man ein Leben leben, das auf dem Kopf steht? Wie machen das andere?
Ich persönlich wollte zu Hause bleiben. Auf Orcas. Mich im Bett vergraben. Oder mich umbringen. Oder im eiskalten Pazifik schwimmen gehen oder Motorrad fahren. Oder mit dem Boot aufs Festland übersetzen. Zwei, drei Menschen verprügeln. Vielleicht in einer Bar mit einem Queue. Vielleicht auch mich selbst mit einer Schachtel Pralinen beschenken. Mit Gluten. Oder mit meiner PC12 hoch in den Himmel fliegen und nie wieder herunterkommen. Jedenfalls nicht auf der Landebahn.
Doch meine Schwester und mein Mann wollten nichts davon zulassen. Und so saß ich nun in ihrem Gästezimmer und schaute mich um, ob ich vielleicht ein Teppichmesser finden würde.
Es war ein großes Gästezimmer. So eine Art Suite für Managergäste. Sie hatten in ihrer Villa ein paar davon. Weil sie immer wieder Kunden und Geschäftsfreunde zu Gast hatten.
Ich war hier zum zweiten Mal. Und ich hoffte sehr, dass es auch das letzte Mal war. Ich mochte ihr Leben nicht. Aniks Leben und das ihres Mannes. Ich mochte meines ja nicht mal.
Ich heulte. Warum eigentlich?
Die Tür ging auf und Anik kam herein.
„Kannst du nicht klopfen?“
„Sorry.“
„Das nächste Mal klopfst du, hörst du?“
„Okay.“
„Was willst du?“
„Wir essen bald. Du solltest duschen.“
„Warum soll ich duschen? Ist das bei euch so eine Art Essensritual wie Beten?“
Anik brachte hier die besonders wichtigen Gäste unter. Kunden natürlich. Solche, denen sie die Ehre gab, nicht in einem Hotel übernachten zu müssen. Die Ehre bei der Besitzerin der Firma im Gästezimmer schlafen zu können. Das war schon etwas. Jetzt erwies sie mir die Ehre…
Ich war allerdings schon öfter in ihrem Haus, doch normalerweise nicht allein und vor allem nicht verheult.
„Wie schafft du es eigentlich in dieser winzigen Handtasche Klamotten unterzubringen?“
„Gar nicht!“, fauchte ich: „Was geht dich das an?“
„Sehr viel, wenn du anfängst zu stinken.“