Cheyenne, das Genie
April 24, 2022Jeden Morgen um Fünf steht Cheyenne beim Flugzeug und räumt ein oder aus. Ich nicht. Was vor allem daran liegt, dass ich um so eine Uhrzeit noch nichts anderes heben kann, als meine Kaffee- oder Teetasse. Außerdem bin ich Pilot und kein Transportarbeiter.
Ich liebe es allerdings, ihr zuzuschauen. Cheyenne ist eines der süßesten Wesen, das ich je gesehen habe. Sie wirkt zerbrechlich, verletzlich – geradezu hilflos. Ihre viel zu schlanke Gestalt schreit geradezu nach starken Armen und einer hilfsbereiten breiten Schulter. Cheyenne ist also alles, was sie für mich als Partnerin oder auch nur als Bettgefährtin disqualifiziert. Abgesehen davon ist sie eines der am wenigsten homosexuellen Wesen, das ich kenne.
Bemerkenswert: Sie ist 24 Jahre jung – ein Kind – und ein Selfmade-Multimillionär. Vor nicht einmal zwei Jahren hat sie ohne Eigenkapital, nur mit einer Idee, ein Internet-Mode-Start-up gegründet. Heute arbeiten mehr als dreihundert Leute für sie, verteilt auf verschiedene Warenhäuser in NYC, Marketingfialen in sieben US-Staaten und in der Zentrale in Brooklyn. Gegen sie wirkt selbst meine Airline-Chefin-Schwester, Frau Dr. Dr. Lauenburg, wie eine Stümperin.
Das Faszinierendste allerdings: Sie verhält sich nicht wie eine Chefin, auch nicht ihren Mitarbeitern gegenüber! Sie wirkt eher wie ein staunendes Kind, das mit großen, leuchtenden Augen seinen Altersgenossen seine neuen Entdeckungen und Errungenschaften teilt.
Conny, die offensichtlich seit einiger Zeit zu Cheyennes Geldgebern gehört und mittlerweile im Aufsichtsrat des Start-ups sitzt, hat mir erzählt, dass es in diesem Unternehmen offenbar keine unzufriedenen Arbeitnehmer gibt. “Eitel Sonnenschein”, berichtet sie: “Ein Wunder!” Die Leute arbeiten nicht länger und mehr als sie wollen und verdienen alle genügend um sich einen adäquatem Lebensstil – inklusive Krankenversicherung – leisten zu können. Im Ergebnis wird die Arbeit schneller, effektiver, gründlicher und kundenfreundlicher erledigt, als in so ziemlich jedem anderen Unternehmen. Die Vorgabe ist, dass die Mitarbeiter wenigstens drei Tage “in der Firma vorbeischauen”, wie lange sie bleiben ist egal. Als Ergebnis kommt kaum einer der Angestellten auf eine Arbeitszeit die kürzer als 40-60 Wochenstunden ist und die drei erwarteten Anwesenheitstage werden nicht erwähnt. Die Meisten schauen freiwillig mindestens fünf bis sechs Tage in der Woche in der Firma vorbei. Eine Unterbesetzung gibt es nicht. Das alles hört sich wie ein modernes Märchen an. “Cheyenne ist ein Genie”, lächelt Conny kopfschüttelnd: “Ihre Leute sind glücklich, wenn sie in der Firma sein dürfen.”
Was ich im Moment von ihr sehe, bestätigt das Bild: Jeder Tropfen Sprit, jede Flughafengebühr, jedes Catering und jede persönliche Zuwendung wird von Cheyenne bezahlt. Und sie – der Workaholic – schuftet von morgens bis abends. Sie schleppt die Kisten, trägt das Gepäck und lächelt jeden Flughafenbeamten, Soldaten oder Polizisten in die weichen Knie. Abends putzt sie die Kabine und lobt mich über den grünen Klee, wenn unsere Landung sanft und perfekt war. Wenn nicht, dann auch.
Ich kenne die süße Unternehmerin erst ein paar Tage und wünsche mir bereits, dass sie meine kleine Schwester wäre. (Oder meine Tochter, wenn ich nicht so kinderophob wäre.)
Conny, meine Ex-Chefin, zahlt einen Teil der Leasingkosten für den Jet – den anderen Teil und die Versicherung, etc. spendet unsere – Aniks – Airline. Außerdem handhabt Conny die Logistik.
Alles rund ums Fliegen (Flugpläne, Ladelisten, Berechnungen, Schedules, Wartung etc.) erledigt mein Co-Pilot. Ein Mann. Niemand ist perfekt.
Ich fliege. Das reicht ja wohl!
